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Vor 70 Jahren im Dezember 1941: Der Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges
By Dr. Jacques R. Pauwels
Global Research, December 30, 2011
Global Research. Übersetzung: Wolfgang Jung 6 December 2011
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70 Years Ago, December 1941: Turning Point of World War II
The victory of the Red Army in front of Moscow was a major break…
– by Jacques R. Pauwels – 2011-12-06

The Soviet Union was the scene of the battle that changed the course of World War II…
http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid=28059

Übersetzung: Wolfgang Jung
http://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_11/LP24711_261211.pdf  

Der Zweite Weltkrieg hat – zumindest auf dem “europäischen Kriegsschauplatz” – begonnen, als die deutsche Wehrmacht im September 1939 Polen überrollte. Etwa sechs Monate später folgten noch spektakulärere Siege, dieses Mal über die Benelux-Länder und Frankreich. Bis zum Sommer 1940 schien Deutschland unbesiegbar und dazu prädestiniert zu sein, den europäischen Kontinent auf unbestimmte Zeit zu beherrschen. [Großbritannien weigerte sich zwar, das Handtuch zu werfen, konnte aber nicht darauf hoffen, den Krieg allein zu gewinnen, und musste fürchten, dass Hitler seine Aufmerksamkeit bald Gibraltar, Ägypten und/oder anderen Kronjuwelen des britischen Empire zuwenden würde.] Fünf Jahre später erfuhr Deutschland den Schmerz und die Erniedrigung einer totalen Niederlage. Am 30. April 1945 beging Hitler in Berlin Selbstmord, als die Rote Armee sich ihren Weg durch die Stadt bahnte, die nur noch aus einem Haufen rauchender Ruinen bestand, und am 8. und 9. Mai musste Deutschland bedingungslos kapitulieren. Offensichtlich muss irgendwann zwischen Ende 1940 und 1944 ein dramatischer Gezeitenwechsel stattgefunden haben. Aber wann und wo? 1944 in der Normandie, wie einige meinen, oder während des Winters 1942/43 in Stalingrad, wie andere behaupten? In Wirklichkeit kippte die Flut im Dezember 1941 in der Sowjetunion, genauer gesagt, in der kargen Ebene westlich von Moskau. Ein deutscher Historiker und Experte für den Krieg gegen die Sowjetunion, hat das so ausgedrückt: “Dieser Sieg der Roten Armee [vor Moskau] war zweifellos die eigentliche Zäsur des ganzen Weltkrieges.”[1]

Dass die Sowjetunion der Schauplatz der Schlacht war, die den Verlauf des Zweiten Weltkrieges änderte, sollte niemand überraschen. Der Krieg gegen die Sowjetunion war der Krieg, den Hitler von Anfang an wollte; das hatte er bereits Mitte der 1920er Jahre in seinem Buch “Mein Kampf” sehr deutlich angekündigt. [Ein Ostkrieg, also ein Krieg gegen die Sowjets, war auch das Wunschziel der deutschen Generäle, der führenden Industriellen Deutschlands und anderer “Säulen” des deutschen Establishments.] Ein deutscher Historiker hat erst kürzlich nachgewiesen [2], dass Hitler schon 1939 eigentlich einen Krieg gegen die Sowjetunion und nicht gegen gegen Polen, Frankreich oder Großbritannien entfesseln wollte. Hitler hat am 11. August 1939 gegenüber Carl J. Burckhardt (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Jacob_Burckhardt), einem Vertreter des Völkerbundes (s. http://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkerbund), erklärt, “alles, was er unternehme, sei gegen Russland gerichtet”, und “wenn der Westen [d. h. die Franzosen und die Briten] zu dumm und zu blind sei, das zu begreifen, müsse er sich mit den Russen verständigen und sich zunächst um den Westen kümmern und ihn besiegen, um sich dann mit ganzer Kraft wieder der Sowjetunion zuwenden und sie schlagen zu können”.[3] Das ist dann tatsächlich auch geschehen. Weil sich der Westen nach Hitlers Ansicht wirklich als “zu dumm und blind” erwies, um ihm im Osten “freie Hand” zu lassen, schloss er zunächst einen Deal mit Moskau ab – den berüchtigten “Hitler-Stalin-Pakt” (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-sowjetischer_Nichtangriffspakt ) – und löste dann den Krieg gegen Polen, Frankreich und Großbritannien aus. Sein Ziel blieb aber unverändert: Er wollte die Sowjetunion so bald wie möglich angreifen und zerstören.

Hitler und die deutschen Generäle waren davon überzeugt, aus dem Ersten Weltkrieg die richtigen Lehren gezogen zu haben. Deutschland, dem wichtige Rohstoffe wie Öl und Gummi fehlten, die in einem modernen Krieg gebraucht werden, konnte keinen Krieg gewinnen, der sich länger hinzog. Um den anstehenden Krieg zu gewinnen, musste Deutschland schnell, sehr schnell siegen. Deshalb wurde das Blitzkrieg-Konzept entwickelt, d. h. die Idee von einem Krieg der “blitzschnell” geführt werden muss. Weil ein Blitzkrieg nur motorisiert zu führen ist, hat Deutschland in Vorbereitung eines solchen Krieges während der dreißiger Jahre eine große Anzahl von Panzern, Flugzeugen und Lastwagen für den Transport seiner Truppen gebaut. Außerdem wurden riesige Vorräte an Öl und Gummi importiert und gehortet. Ein großer Teil dieses Öls wurde von US-Ölkonzernen gekauft, von denen einige auch noch so freundlich waren, das “Rezept” zur Verfügung zu stellen, mit dem synthetischer Kraftstoff aus Kohle erzeugt werden konnte.[4] Mit ihren Tausenden von Panzern und Flugzeugen konnten die deutsche Wehrmacht und ihre Luftwaffe 1939 und 1940 die polnischen, niederländischen, belgischen und französischen Verteidiger in wenigen Wochen überwältigen; “blitzschnelle” Blitzkriege endeten immer mit “blitzschnellen” Blitzsiegen.

Diese Siege waren zwar spektakulär, sie brachten Deutschland aber kaum lebenswichtige Kriegsbeute wie Öl und Gummi ein. Stattdessen zehrten die “Blitzkriege” die vor dem Krieg angelegten Vorräte auf. Zum Glück für Hitler konnte Deutschland 1940 und 1941 noch Öl aus den damals noch neutralen USA importieren – nicht direkt, aber über neutrale [und befreundete] Staaten wie das Spanien Francos. Außerdem wurde Deutschland, wie im Hitler-Stalin-Pakt vereinbart, auch von der Sowjetunion selbst sehr großzügig mit Öl versorgt! Es störte Hitler jedoch sehr, dass Deutschland die Sowjetunion dafür mit hochwertigen Industrieprodukten und modernster Militärtechnologie beliefern musste, mit der die Sowjets ihre Armee modernisierten und deren Bewaffnung verbesserten.[5]

Deshalb ist es verständlich, dass Hitler seinen früheren Plan für einen Krieg gegen die Sowjetunion bald nach der Niederlage Frankreichs, nämlich im Sommer 1940, wieder aufgriff. Den formellen Auftrag, unter dem Decknamen “Fall Barbarossa” (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Unternehmen_Barbarossa ) konkrete Angriffspläne zu entwickeln, erteilte er einige Monate später – am 18. Dezember 1940.[6] Bereits 1939 war Hitler ganz begierig darauf, die Sowjetunion anzugreifen; gegen den Westen hatte er sich nur gewandt, um – wie es ein deutscher Historiker formuliert hat – “der Rücken frei zu haben, wenn er dazu in der Lage wäre, der Sowjetunion die offenen Rechnungen zu präsentieren”. Der selbe Historiker kommt zu dem Schluss, dass Hitler auch 1940 noch diese Absicht hatte: “Der wahre Feind stand immer noch im Osten.”[7] Hitler wollte einfach nicht mehr länger mit der Verwirklichung seines größten Lebenszieles warten: mit der Zerstörung des Staates, den er bereits in “Mein Kampf” als seinen Erzfeind definiert hatte. Außerdem wusste er, dass sich die Sowjets fieberhaft auf die Abwehr eines deutschen Angriffs vorbereiteten, der ganz sicher früher oder später kommen würde. Da die Sowjetunion jeden Tag stärker wurde, arbeitete die Zeit offensichtlich nicht für Hitler. Wie lange konnte er noch warten, bis sich das “Zeitfenster” schloss?

Außerdem würde ein (erfolgreicher) Blitzkrieg gegen die Sowjetunion Deutschland den Zugriff auf die praktisch unbegrenzten Ressourcen dieses riesigen Landes ermöglichen: Mit dem Weizen der Ukraine würde man die deutsche Bevölkerung auch in Kriegszeiten durchfüttern können, und mit russischer Kohle wäre die Produktion synthetischen Gummis und synthetischen Kraftstoffs zu sichern; vor allem aber würden die reichen Ölfelder Bakus und Groznys genügend Nachschub für die Tanks der spritfressenden Panzer und Stukas liefern. Wenn er über die (russischen) Rohstoffquellen verfügen könnte, würde es Hitler leicht fallen, mit Großbritannien abzurechnen und ihm zum Beispiel gleich zu Beginn Gibraltar wegzunehmen. Deutschland würde endlich zu einer Weltmacht und in seiner vom Atlantik bis zum Ural reichenden europäischen “Festung” unangreifbar werden; im Besitz unbegrenzter Ressourcen könnte es auch lange Kriege gegen jeden Gegner gewinnen – auch gegen die USA – und als Sieger aus einem künftigen “Krieg der Kontinente” hervorgehen, den sich Hitler bereits in seiner krankhaften Fantasie ausmalte.

Hitler und seine Generäle waren davon überzeugt, dass der Blitzkrieg, den sie gegen die Sowjetunion vorbereiteten, ebenso erfolgreich sein würde, wie ihre vorherigen Blitzkriege gegen Polen und Frankreich. Sie betrachteten die Sowjetunion als einen “Riesen auf tönernen Füßen” und hielten ihre von Stalin gegen Ende der 1930er Jahr (von “unzuverlässigen” Offizieren) gesäuberte Armee (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Stalinsche_S%C3%A4uberungen ) für “nicht mehr als einen Witz”; das hat auch Hitler selbst einmal gesagt.[8] Sie glaubten die entscheidenden Schlachten in vier bis sechs Wochen schlagen und natürlich auch gewinnen zu können und rechneten allenfalls mit einigen abschließenden Säuberungsaktionen, bei denen sie die Reste der Roten Armee “wie eine Horde geschlagener Kosaken durchs ganze Land jagen würden”.[9] Vor allem Hitler war felsenfest davon überzeugt und “sah sich am Vorabend des Angriffs vor dem größten Triumph seines Lebens”.[10]

[Auch die Militärexperten in Washington und London rechneten nicht damit, dass die Sowjetunion dem Nazikoloss, der sich durch seine militärischen Großtaten in den Jahren 1939 und 1940 den Ruf der Unbesiegbarkeit erworben hatte, ernsthaften Widerstand leisten könnte. Die britischen Geheimdienste waren überzeugt davon, dass die Sowjetunion “innerhalb von acht bis zehn Wochen liquidiert würde”, und Field Marshall John Dill, der Chef des britischen Generalstabes, verkündete, die Wehrmacht werde die Rote Armee “wie ein warmes Messer die Butter” zerteilen und sie “wie Vieh” zusammentreiben”. Ein Experte in Washington meinte, Hitler werde Russland “wie ein Ei zerquetschen”.] [11]

Der deutsche Angriff begann in den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941. Drei Millionen deutsche Soldaten und fast 700.000 Soldaten von Verbündeten Nazideutschlands überquerten mit 600.000 Kraftfahrzeugen, 3.648 Panzern, über 2.700 Flugzeugen und etwas mehr als 7.000 Artilleriegeschützen die Grenze (der Sowjetunion). [12] Zuerst verlief alles nach Plan. Es gelang, riesige Lücken in die sowjetischen Verteidigungslinien zu schlagen und schnell eindrucksvolle Landgewinne zu erzielen; Hunderttausende Soldaten der Roten Armee wurden in eindrucksvollen “Kesselschlachten” eingekreist und getötet, verwunden oder gefangen genommen. Nach einer solchem Schlacht, die Ende Juli bei Smolensk geschlagen wurde, schien der Weg nach Moskau frei zu sein.

Es zeigte sich jedoch sehr bald, dass der Blitzkrieg im Osten nicht der erwartete “Spaziergang” werden würde. Wie vorherzusehen war, konnte die stärkste Militärmaschinerie der Welt der Roten Armee zwar schwere Schläge versetzen, aber diese leistete – wie Propagandaminister Joseph Goebbels bereits am 2. Juli seinem Tagebuch anvertraute – auch zähen Widerstand und schlug bei mehr als einer Gelegenheit ziemlich hart zurück. General Franz Halder (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Halder ), der in vieler Hinsicht der “Vater” des Angriffsplans für das Unternehmen Barbarossa war, gab zu, dass der sowjetischer Widerstand viel härter war, als alles, was die Deutschen in Westeuropa erlebt hatten. Die Wehrmacht meldete “starken”, “zähen” und sogar “entschlossenen” Widerstand, der auf deutscher Seite schwere Verluste an Männern und Ausrüstung forderte.[13] Öfter als erwartet, gelang es sowjetischen Truppen, Gegenangriffe zu starten, die den deutschen Vormarsch verlangsamten. Einige sowjetische Einheiten tauchten in den ausgedehnten Pripet-Sümpfen oder in Wäldern unter und organisierten einen tödlichen Partisanenkrieg, der die langen und verwundbaren Nachschublinien der Deutschen bedrohte.[14] Es stellte sich auch heraus, dass die Rote Armee viel besser ausgerüstet war, als man erwartet hatte. Ein deutscher Historiker schreibt, die deutschen Generäle seien sehr “erstaunt” über die Qualität der sowjetischen Waffen gewesen, besonders über den Katjuscha-Raketenwerfer [die so genannte “Stalin-Orgel”] (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Katjuscha_%28Raketenwerfer%29 ) und den Panzer T-34 (s. dazu auch http://de.wikipedia.org/wiki/T-34 ). Hitler war wütend, weil seinen Geheimdiensten die Existenz dieser Waffen verborgen geblieben war.[15]

Die meisten Sorgen machte den Deutschen die Tatsache, dass es der Hauptteil der Roten Armee schaffte, sich in relativ guter Ordnung der Zerstörung in einer großen Kesselschlacht wie der von Cannae (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_von_Cannae ) oder Sedan (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_von_Sedan ) zu entziehen, von der Hitler und seine Generäle geträumt hatten. Die Sowjets schienen die deutschen Blitzkrieg-Erfolge von 1939 und 1940 genau beobachtet, analysiert und die richtigen Lehren daraus gezogen zu haben. Es muss ihnen aufgefallen sein, dass die Franzosen im Mai 1940 ihre Streitkräfte direkt an ihrer Grenze und in Belgien massiert und der deutschen Kriegsmaschinerie damit die Möglichkeit gegeben hatten, sie in einer großen Kesselschlacht zu umfassen. [Auch die britischen Truppen wurden eingekreist, schafften es aber, von Dünkirchen aus (über den Kanal, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_von_D%C3%BCnkirchen ) zu flüchten.] Die Sowjets hatten ihre Grenze nur mit relativ wenigen Truppen gesichert, und diese Truppen erlitten – wie vorauszusehen war – zu Beginn des Unternehmens Barbarossa auch die größten Verluste, welche die Rote Armee zu beklagen hatte. Auch wenn Historiker wie Richard Overy [16] das nicht so sehen, hielt die Rote Armee den Hauptteil ihrer Truppen im Hinterland zurück, um sie einer Umzingelung zu entziehen. Es war diese “tief gestaffelte Verteidigung”, der den deutschen Ehrgeiz, die Rote Armee (im ersten Anlauf) vollständig zu zerstören, zunichte machte. Marschall Schukow (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Georgi_Konstantinowitsch_Schukow) schrieb in seinen Lebenserinnerungen: “Die Sowjetunion wäre überrannt worden, wenn wir unsere gesamten Streitkräfte an der Grenze konzentriert hätten.”

Bereits Mitte Juli, als Hitlers Krieg im Osten aufhörte, ein Blitzkrieg zu sein, begannen sich hohe deutsche Offiziere große Sorgen zu machen. Admiral Wilhelm Canaris, der Chef der Abwehr, des Geheimdienstes der Wehrmacht (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Canaris ), vertraute zum Beispiel am 17. Juli General von Bock, einem Kollegen an der Front (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Fedor_von_Bock ) an, er “sehe nur noch schwarz”. Auch an der Heimatfront begannen viele deutsche Zivilisten zu erkennen, dass der Krieg im Osten nicht gut lief. Victor Klemperer (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Klemperer ) schrieb am 13. Juli in Dresden in sein Tagebuch: “Wir erleiden riesige Verluste, wir haben die Russen unterschätzt … “[18] Um die gleiche Zeit gab Hitler selbst seinen Glauben an einen schnellen und leichten Sieg auf und schraubte seine Erwartungen zurück; er hoffte jetzt nur noch, dass seine Truppen noch vor Oktober die Wolga und etwa einen Monat später die Ölfelder des Kaukasus erreichen könnten.[19] Ende August, zu einem Zeitpunkt, als das Unternehmen Barbarossa eigentlich schon (siegreich) beendet sein sollte, wurde in einem Memorandum des Oberkommandos der Wehrmacht [OKW] (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Oberkommando_der_Wehrmacht ) festgestellt, dass der Krieg im Jahr 1941 nicht mehr zu gewinnen sei.[20]

Ein Hauptproblem war die Tatsache, dass am 22. Juni – zu Beginn des Unternehmens Barbarossa – nur Kraftstoffe, Reifen und Ersatzteile für etwa zwei Monate zur Verfügung standen. Das war für ausreichend gehalten worden, weil die Deutschen glaubten, die Sow-jetunion innerhalb von zwei Monaten in die Knie zwingen und dann über ihre unbegrenzten Vorräte an Industrieprodukten und Rohstoffen verfügen zu können. [21] Ende August waren die deutschen Panzerspitzen aber noch keineswegs bis in die Nähe der weit entfernten Gebiete der Sowjetunion vorgestoßen, in denen Öl, der wertvollste aller kriegswichtigen Rohstoffe, zu holen war. Dass die Panzer, wenn auch immer langsamer werdend, in den endlos erscheinenden russischen und ukrainischen Weiten überhaupt noch weiter rollen konnten, war zum Großteil den Kraftstoffen und dem Gummi zu verdanken, das weiterhin über Spanien und das besetzte Frankreich aus den USA importiert werden konnte. Der Anteil an den für die Schmierung von Fahrzeugmotoren besonders wichtigen deutschen Motoröl-Importen, der aus den USA kam, stieg zum Beispiel im Sommer 1941 rapide an, nämlich von 44 Prozent im Juli auf knapp 94 Prozent im September.[22]

Als die deutschen Truppen im September Kiew einnahmen, 650.000 Gefangene machten und Fortschritte beim Vorrücken auf Moskau zu verzeichnen waren, flammte wieder Optimismus auf. Hitler glaubte, oder gab wenigstens vor, zu glauben, die Sowjets seien bald am Ende. In einer öffentlichen Rede im Berliner Sportpalast am 3. Oktober erklärte er, der Ostkrieg sei praktisch zu Ende. Der Wehrmacht wurde befohlen, der Sowjetunion mit dem gegen Moskau gerichteten “Unternehmen Taifun” den Gnadenstoß zu versetzen. Die Aussichten auf einen schnellen Erfolg zerschlugen sich jedoch, weil die Sowjets schnell Reserveeinheiten aus dem Fernen Osten heranzogen. [Sie waren von ihrem Meisterspion Richard Sorge (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Sorge ) in Tokio darüber informiert worden, dass die Japaner, deren Armee in Nordchina stand, nicht mehr beabsichtigten, die verwundbare sowjetische Grenze bei Wladiwostok anzugreifen.] Die Lage verschlimmerte sich noch, weil die Deutschen im Kampf um Moskau ihre Luftüberlegenheit verloren. Zudem konnte nicht mehr genügend Nachschub an Munition und Verpflegung aus der Etappe an die Front gebracht werden, weil die langen Nachschubwege durch Aktivitäten der Partisanen häufig unterbrochen wurden. [23] Dazu kam die für diese Jahreszeit zu erwartende russische Kälte, auf die das deutsche Oberkommando aber nicht vorbereitet war; weil es davon überzeugt war, den Blitzkrieg im Osten bis zum Ende des Sommers beenden zu können, hatte es versäumt, die Truppen mit der Ausrüstung zu versorgen, die gebraucht wurde, wenn im Regen und Schlamm des russischen Herbstes und im Schnee und in der Kälte des russischen Winters gekämpft werden sollte.

Die Einnahme Moskaus war nach Meinung Hitlers und seiner Generäle ein äußerst wichtiges Ziel. Irrtümlicherweise glaubten sie, mit der Eroberung Moskaus die Sowjetunion “enthaupten” und ihren Zusammenbruch herbeiführen zu können. Es erschien ihnen auch wichtig, eine Wiederholung des Szenarios vom Sommer 1914 zu vermeiden, als der unaufhaltsam scheinende deutsche Vormarsch durch die Schlacht an der Marne (http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_an_der_Marne_%281914%29 ) nur 50 km vor Paris gestoppt wurde. Diese aus deutscher Sicht als Desaster empfundene Schlacht hatte Deutschland gleich zu Beginn des “Großen Krieges” (des Ersten Weltkrieges) den sicher geglaubten Sieg geraubt und ihm einen langen Kampf aufgezwungen, den es wegen der Blockade durch die britische Marine und wegen des Mangels an Rohstoffen verlieren musste. In dem neuen Großen Krieg gegen den neuen Erzfeind, die Sowjetunion, durfte es kein neues “Wunder an der Marne”, also keine erneute Niederlage vor einer anderen Hauptstadt, geben; Deutschland sollte nicht wieder aus Rohstoffmangel und blockiert in einen langen Konflikt hineingezogen werden, den es nur verlieren konnte. Anders als Paris würde Moskau fallen, die Geschichte würde sich nicht wiederholen, und diesmal würde Deutschland siegreich bleiben.[24] Das hoffte man wenigstens in Hitlers Hauptquartier.

Die Wehrmacht drang, wenn auch sehr langsam, weiter vor, und Mitte November standen einige Einheiten nur 30 Kilometer vor der russischen Hauptstadt. Diese Truppen waren aber total erschöpft und hätten dringend Nachschub gebraucht. Ihre Kommandeure wussten, dass es einfach unmöglich war, Moskau einzunehmen, das so nahe vor ihnen lag. Wenn sie es versucht hätten, wäre kein Sieg möglich gewesen. Am 3. Dezember stellten mehrere Einheiten die Offensive aus eigener Initiative ein. Innerhalb von Tagen wurde jedoch die komplette deutsche Armee vor Moskau in die Defensive gezwungen. Am 5. Dezember um 3 Uhr morgens startete die Rote Armee trotz Kälte und Schnee plötzlich einen großen, gut vorbereiteten Gegenangriff. Die Linien der Wehrmacht wurden in vielen Stellen durchstoßen, und die Deutschen wurden unter schwersten Verlusten an Männern und Ausrüstung zwischen 100 und 280 km zurückgeworfen. Nur unter äußersten Anstrengungen konnten sie eine katastrophale Einkesselung verhindern. Am 8. Dezember befahl Hitler seiner Armee, die Offensive aufzugeben und Verteidigungsstellungen zu beziehen. Für diesen Rückschlag machte er den angeblich unerwartet frühen Wintereinbruch verantwortlich; er weigerte sich, den von seinen Generälen empfohlenen Rückzug anzutreten und wollte im Frühling erneut angreifen.[25]

So endete der Blitzkrieg Hitlers gegen die Sowjetunion, mit dem er sich, wenn er siegreich verlaufen wäre, den größten Wunsch seines Lebens – die Zerschlagung der Sowjetunion – hätte erfüllen können. Aus heutiger Sicht wäre ein Sieg vor allem deshalb wichtig gewesen, weil Nazi-Deutschland dann über genügend Öl und andere Rohstoffe verfügt hätte, um zu einer unverwundbaren Weltmacht zu werden. Dann wäre es Nazi-Deutschland sehr wahrscheinlich auch gelungen, das störrische Großbritannien zu unterwerfen, selbst wenn die USA ihren angelsächsischen Vettern zur Hilfe gekommen wären, was Anfang Dezember 1941 aber noch nicht sicher war. Durch einen Blitzsieg gegen die Sowjetunion sollte eine deutsche Niederlage unmöglich gemacht werden, und das wäre wahrscheinlich auch gelungen. [Wenn es Nazi-Deutschland 1941 geschafft hätte, die Sowjetunion zu besiegen, würde es wahrscheinlich heute noch über Europa und vielleicht sogar auch über den Nahen Osten und Nordafrika herrschen. Wegen seiner Niederlage in der Schlacht vor Moskau im Dezember 1941 konnte Hitler seinen Blitzkrieg aber nicht mit dem erhofften Blitzsieg beenden. Durch die Niederlage in der neuen “Schlacht an der Marne”, die westlich von Moskau entschieden wurde, verspielte Nazi-Deutschland nicht nur den Sieg gegen die Sowjetunion, sondern auch Sieg gegen Großbritannien und den Gesamtsieg im Zweiten Weltkrieg.

Mit den Lehren aus dem Ersten Weltkrieg im Kopf, haben Hitler und seine Generäle von Anfang an gewusst, dass sie den neuen Weltkrieg, den sie ausgelöst hatten, nur gewinnen konnten, wenn Deutschland schnell, am besten blitzschnell siegte. Am 5. Dezember 1941 wussten alle in Hitlers Hauptquartier, dass Deutschland, weil ein Blitzsieg gegen die Sowjetunion nicht mehr möglich war, den Krieg früher oder später verlieren musste. Nach Aussage des Generals Alfred Jodl (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Jodl ), der damals Operationschef im OKW war, hat auch Hitler sofort begriffen, dass er den Krieg nicht mehr gewinnen konnte.[26] Somit kann also festgestellt werden, dass sich der Gezeitenwechsel im Zweiten Weltkrieg am 5. Dezember 1941 ereignete. Wie sich der wirkliche Gezeitenwechsel (am Meer) nicht plötzlich, sondern allmählich und kaum merklich vollzieht, fand auch der Gezeitenwechsel im Krieg nicht an einem einzigen Tag, sondern im Lauf mehrerer Tage, Wochen, ja sogar Monate statt, nämlich in der Zeitspanne von etwa drei Monaten, die zwischen dem Ende des Sommers und Anfang Dezember 1941 lag.
Die Gezeiten des Krieges wechselten zwar allmählich, aber nicht unbemerkt. Bereits im August 1941, als die Sowjets trotz der deutschen Erfolge nicht kapitulierten und der Vormarsch der Wehrmacht sich beträchtlich verlangsamte, begannen scharfsinnige Beobachter nicht nur an der Möglichkeit eines deutschen Sieges über die Sowjetunion, sondern auch an einem deutschen Gesamtsieg in diesem Krieg zu zweifeln. Der gut informierte Vatikan, zum Beispiel, der anfangs den “Kreuzzug” Hitlers gegen die Sowjetunion, “die Heimat des gottlosen Bolschewismus”, begeistert begrüßt hatte und davon überzeugt war, dass die Sowjets schnell zusammenbrechen würden, fing gegen Ende des Sommers 1941 an, sich ernsthaft Sorgen über die Situation im Osten zu machen; bereits Mitte Oktober kam er zu dem Schluss, dass Deutschland den Krieg verlieren werde. [27] Ebenfalls Mitte Oktober berichtete der Geheimdienst der Schweiz, dass “die Deutschen den Krieg nicht mehr gewinnen können”; diese Einschätzung beruhte auf Informationen, die von deutschen Offizieren stammten, die zu Besuch in Schweden weilten. [28] Ende November breitete sich in den höheren Rängen der Wehrmacht und der Nazi-Partei Defätismus aus. Obwohl sie mit ihren Truppen weiter nach Moskau drängten, hätten es einige Generäle vorgezogen, (der Sowjetunion) ein Friedensangebot zu unterbreiten und den Krieg ohne den großen Sieg zu beenden, der ihnen zu Beginn des Unternehmens Barbarossa so sicher zu sein schien. Gegen Ende November schlug Fritz Todt, der Reichsminister für Bewaffnung und Munition (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Todt ), Hitler vor, nach einem diplomatischen Ausweg aus dem Krieg zu suchen, der seiner Meinung nach sowohl militärisch als auch im Hinblick auf die industriellen Kapazitäten für Deutschland bereits so gut wie verloren war. [29]

Als die Rote Armee am 5. Dezember ihre verheerende Gegenoffensive startete, begriff auch Hitler selbst, dass er den Krieg verlieren würde. Er war aber natürlich nicht bereit, das auch der deutschen Bevölkerung bereits mitzuteilen. Die schlimmen Nachrichten von der Front vor Moskau wurden der Öffentlichkeit als ein vorübergehender Rückschlag präsentiert, der auf den unerwartet frühen Wintereinbruch und/oder die Unfähigkeit oder Feigheit einzelner Kommandeure zurückzuführen sei. [Erst ein gutes Jahr später – im Winter 1942/43 – nach der katastrophalen Niederlage in der Schlacht um Stalingrad, begriffen die deutsche Bevölkerung und die ganze Welt, dass Deutschland geschlagen war; bis heute glauben sogar viele Historiker noch, dass der Gezeitenwechsel (im Zweiten Weltkrieg) in Stalingrad stattfand.] Trotzdem erwies es sich als unmöglich, die katastrophalen Implikationen der Katastrophe vor Moskau völlig geheim zu halten. So berichtete zum Beispiel am 19. Dezember 1941 der deutsche Konsul in Basel seinen Vorgesetzten in Berlin, was der [offen mit den Nazis sympathisierende] Chef einer Kommission des schweizerischen Roten Kreuzes – die an die Front in der Sowjetunion geschickt worden war, um nur den deutschen Verwundeten zu helfen, obwohl das natürlich gegen die Regeln des Rotem Kreuz verstieß – nach seiner Rückkehr gesagt hatte; am meisten überraschte den Konsul dessen Äußerung, “er glaube nicht mehr, dass Deutschland den Krieg gewinnen könne”. [30]

Am 7. Dezember 1941 befand sich Hitler in seinem tief in den Wäldern Ostpreußens verborgenen Hauptquartier und hatte die unheilverkündenden Nachrichten über die sowjetische Gegenoffensive vor Moskau noch nicht völlig verdaut, als er erfuhr, dass die Japaner in Pearl Harbor (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Angriff_auf_Pearl_Harbor ) auf der anderen Seite der Welt die US-Amerikaner angegriffen hatten. Daraufhin erklärten die USA nur Japan den Krieg – nicht aber Deutschland, das nichts mit dem Angriff zu tun hatte und noch nicht einmal über die japanischen Pläne informiert worden war. Hitler war keineswegs verpflichtet, seinen japanischen Freunden zur Hilfe zu kommen – wie viele US-Historiker behaupten; trotzdem erklärte er am 11. Dezember 1941 – vier Tage nach dem Angriff auf Pearl Harbor – den USA den Krieg. Diese irrational anmutende Entscheidung muss im Licht der Lage gesehen werden, in der sich die deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion befand. Hitler rechnete fest damit, dass diese vollkommen überflüssige Solidaritätsgeste seine fernöstlichen Verbündeten dazu veranlassen würde, nun ihrerseits der Sowjetunion, dem Feind Deutschlands, den Krieg zu erklären, was die Sowjets in die äußerst lebensbedrohliche Situation eines Zwei-Fronten-Krieges gebracht hätte. Hitler scheint geglaubt zu haben, den Albtraum einer Niederlage in der Sowjetunion und im gesamten Krieg noch dadurch vertreiben zu können, dass er Japan als “deus ex machina” (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Deus_ex_machina ) an der verwundbaren sibirischen Grenze der Sowjetunion auftauchen ließ. Nach Meinung des deutschen Historikers Hans W. Gatzke war Hitler davon überzeugt, dass “Deutschland nicht mit der Unterstützung Japans gegen die Sowjetunion rechnen könne, wenn es Japan die Hilfe [im Krieg gegen die USA] verweigere”. Japan schluckte Hitlers Köder allerdings nicht. Auch Tokio lehnte den sowjetischen Staat ab, aber das Land der aufgehenden Sonne, das sich bereits im Krieg mit den USA befand, konnte sich den Luxus eines Zwei-Fronten-Krieges genau so wenig leisten wie die Sowjets; es investierte seine Mittel in strategische Unternehmungen in Südostasien und hoffte, dort im ölreichen Indonesien größere Beute als durch ein gewagtes Unternehmen im ungastlichen Sibirien zu machen. Erst gegen Ende des Krieges – nach der Kapitulation Nazis-Deutschlands – kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der Sowjetunion und Japan. [31]

Hitler selbst war schuld daran, dass zum Lager der Feinde Deutschlands jetzt nicht nur Großbritannien und die Sowjetunion, sondern auch die mächtigen USA gehörten, und deren Truppen waren in absehbarer Zukunft an Deutschlands Grenzen oder mindestens an den Küsten des besetzten Europas zu erwarten. Die US-Truppen sind dann tatsächlich – aber erst 1944 – in Frankreich gelandet; und trotzdem wird dieses zweifellos wichtige Ereignis noch häufig als der eigentliche Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs präsentiert. Man muss sich jedoch fragen, ob die US-Amerikaner jemals in der Normandie gelandet oder überhaupt in den Krieg gegen Nazi-Deutschland eingetreten wären, wenn Hitler ihnen nicht am 11. Dezember 1941 den Krieg erklärt hätte; und man sollte sich auch fragen, ob Hitler jemals die verzweifelte, ja sogar selbstmörderische Entscheidung getroffen hätte, den USA den Krieg zu erklären, wenn seine Truppen sich nicht in dieser hoffnungslosen Situation in der Sowjetunion befunden hätten. Das Eingreifen der USA in den Krieg gegen Deutschland, das aus vielen Gründen vor Dezember 1941 noch nicht feststand, war ebenfalls eine Folge der deutschen Niederlage vor Moskau. Auch diese Tatsache stützt die Behauptung, dass der “Gezeitenwechsel” im Herbst und zu Beginn des Winters 1941 in der Sowjetunion stattfand.

Obwohl Nazi-Deutschland geschlagen war, sollte der Krieg noch lange dauern. Hitler ignorierte den Rat seiner Generäle, die darauf drängten, den Krieg auf diplomatischem Weg zu beenden, und entschied sich für die Fortsetzung des Kampfes, in der vagen Hoffnung, doch noch einen Sieg aus dem Hut zaubern zu können. Die russische Gegenoffensive verlor an Schwung, die Wehrmacht überstand den Winter 1941/42, und im Frühling 1942 sammelte Hitler alle verfügbaren Kräfte für eine Offensive unter dem Decknamen “Unternehmen Blau”, die über Stalingrad die Ölfelder des Kaukasus erreichen sollte. Hitler gestand sich selbst ein, dass “er diesen Krieg würde beenden müssen, wenn er das Öl von Maikop und Grozny nicht in die Hände bekam”. [32] Das Überraschungsmoment war jedoch verloren, und die Sowjets verfügten über riesige Mengen von Männern, Öl und anderen Ressourcen und eine ausgezeichnete Ausrüstung, die größtenteils aus Fabriken kam, die zwischen 1939 und 1941 hinter dem Ural gebaut worden waren. Die Wehrmacht hingegen konnte die riesigen Verluste nicht ersetzen, die sie 1941 erlitten hatte. Zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 31. Januar 1942 hatten die Deutschen 6.000 Flugzeuge und mehr als 3.200 Panzer und sonstige Fahrzeuge verloren. 918.000 deutsche Soldaten waren getötet oder verwundet worden oder galten als vermisst; in der Summe waren das 28,7 Prozent der gesamten deutschen Armee, die mit 3,2 Millionen Soldaten (in die Sow- jetunion) eingefallen war. [33] [Im Zweiten Weltkrieg verlor Deutschland nicht weniger als 10 Millionen seiner 13,5 Millionen getöteten, verwundeten oder in Gefangenschaft geratenen Soldaten in der Sowjetunion; die Rote Armee hat 90 Prozent aller im Zweiten Weltkrieg gefallenen Deutschen getötet.] [34] Die noch für den Vorstoß auf die Ölfelder des Kaukasus zur Verfügung stehenden Kräfte waren deshalb sehr begrenzt. Unter diesen Umständen ist es bemerkenswert, dass die Deutschen 1942 überhaupt noch so weit kamen. Als ihre Offensive im September dieses Jahres endgültig ins Stocken geriet, waren ihre sich über Hunderte von Kilometern erstreckenden, von schwachen Kräften gehaltenen Linien ein ideales Ziel für einen sowjetischen Angriff. Als dieser Angriff kam, wurde bei Stalingrad eine komplette deutsche Armee vernichtend geschlagen. Nach diesem großen Sieg der Roten Armee war die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg für alle ersichtlich. Und doch war die scheinbar weniger bedeutende, relativ unbeachtete deutsche Niederlage vor Moskau gegen Ende des Jahres 1941 die Vorbedingung für den zugegebenermaßen spektakuläreren und deutlicher erkennbaren Sieg der Roten Armee in Stalingrad.

Es gibt noch weitere Gründe, den Dezember 1941 als den eigentlichen Wendepunkt des Krieges anzusehen. Die sowjetische Gegenoffensive (vor Moskau) hatte den Ruf der Unbesiegbarkeit zerstört, in dem sich die Wehrmacht seit ihrem 1939 in Polen errungenen Erfolg sonnen konnte und der sich sehr nachteilig auf alle bisherigen Gegner Deutschlands ausgewirkt hatte. Die Schlacht um Moskau stellte auch sicher, dass der Hauptteil der deutschen Streitkräfte auf unabsehbare Zeit in einer fast 4.000 km langen Frontlinie im Osten gebunden blieb; damit entfiel zum Beispiel auch die Möglichkeit deutscher Operationen gegen Gibraltar, was sich als gewaltige Entlastung für die Briten erwies. Außerdem demoralisierte das Scheitern des deutschen Blitzkrieges (gegen die Sowjetunion) auch deutsche Verbündet wie Finnland und andere. Diese Aufzählung ließe sich noch fortsetzen.

Der Gezeitenwechsel (im Zweiten Weltkrieg) trat also im Dezember 1941 vor Moskau ein, weil dort der Blitzkrieg (gegen die Sowjetunion) fehlschlug und Nazi-Deutschland ein langer Krieg aufgezwungen wurde, den es – das wussten auch Hitler und seine Generäle – wegen fehlender Ressourcen nicht gewinnen konnte.

Jacques R. Pauwels ist der Autor des Buches “Der Mythos vom guten Krieg – Die USA und der Zweite Weltkrieg”, das 2006 in deutscher Übersetzung auch beim PapyRossa Verlag in Köln erschienen ist.

Anmerkungen / Notes

[1] Gerd R. Ueberschär, „Das Scheitern des ‚Unternehmens Barbarossa‘“, in Gerd R. Ueberschär and Wolfram Wette (eds.), Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion: “Unternehmen Barbarossa” 1941, Frankfurt am Main, 2011, p. 120.

[2] Rolf-Dieter Müller, Der Feind steht im Osten: Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939, Berlin, 2011.

[3] Cited in Müller, op. cit., p. 152.

[4] Jacques R. Pauwels, The Myth of the Good War: America in the Second World War, James Lorimer, Toronto, 2002, pp. 33, 37.

[5] Lieven Soete, Het Sovjet-Duitse niet-aanvalspact van 23 augustus 1939: Politieke Zeden in het Interbellum, Berchem [Antwerp], Belgium, 1989, pp. 289-290, including footnote 1 on p. 289.
[6] See e.g. Gerd R. Ueberschär, “Hitlers Entschluß zum ‘Lebensraum’-Krieg im Osten: Programmatisches Ziel oder militärstrategisches Kalkül?,” in Gerd R. Ueberschär and Wolfram Wette (eds.), Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion: “Unternehmen Barbarossa” 1941, Frankfurt am Main, 2011, p. 39.

[7] Müller, op. cit., p. 169.

[8] Ueberschär, “Das Scheitern…,” p. 95.

[9] Müller, op. cit., pp. 209, 225.

[10] Ueberschär, “Hitlers Entschluß…”, p. 15.

[11] Pauwels, op. cit., p. 62; Ueberschär, „Das Scheitern…,“ pp. 95-96; Domenico Losurdo, Stalin: Storia e critica di una leggenda nera, Rome, 2008, p. 29.

[12] Müller, op. cit., p. 243.

[13] Richard Overy, Russia’s War, London, 1997, p. 87.

[14] Ueberschär, “Das Scheitern…“, pp. 97-98.

[15] Ueberschär, “Das Scheitern…“, p. 97; Losurdo, op. cit., p. 31.

[16] Overy, op. cit., pp. 64-65.

[17] Grover Furr, Khrushchev Lied : The Evidence That Every ‘Revelation’ of Stalin’s (and Beria’s) ‘Crimes’ in Nikita Khrushchev’s Infamous ‘Secret Speech’ to the 20th Party Congress of the Communist Party of the Communist Party of the Soviet Union on February 25, 1956, is Provably False, Kettering/Ohio, 2010, p. 343: Losurdo, op. cit., p. 31; Soete, op. cit., p. 297.

[18] Losurdo, op. cit., pp. 31-32.

[19] Bernd Wegner, “Hitlers zweiter Feldzug gegen die Sowjetunion: Strategische Grundlagen und historische Bedeutung“, in Wolfgang Michalka (ed.), Der Zweite Weltkrieg: Analysen – Grundzüge – Forschungsbilanz, München and Zurich, 1989, p. 653.

[20] Ueberschär, “Das Scheitern…“, p. 100.

[21] Müller, op. cit., p. 233.

[22] Tobias Jersak, “Öl für den Führer,“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, February 11, 1999. Jersak used a “top secret” document produced by the Wehrmacht Reichsstelle für Mineralöl, now in the military section of the Bundesarchiv (Federal Archives), file RW 19/2694.

[23] Ueberschär, “Das Scheitern…“, pp. 99-102, 106-107.

[24] Ueberschär, “Das Scheitern…“, p. 106.

[25] Ueberschär, “Das Scheitern…,” pp. 107-111; Geoffrey Roberts, Stalin`s Wars from World War to Cold War, 1939-1953, New Haven/CT and London, 2006, p. 111.
[26] Andreas Hillgruber (ed.), Der Zweite Weltkrieg 1939–1945: Kriegsziele und Strategie der Grossen Mächte, fifth edition, Stuttgart, 1989, p. 81.

[27] Annie Lacroix-Riz, Le Vatican, l’Europe et le Reich de la Première Guerre mondiale à la guerre froide, Paris, 1996, p. 417.

[28] Daniel Bourgeois, Business helvétique et troisième Reich : Milieux d’affaires, politique étrangère, antisémitisme, Lausanne, 1998, pp. 123, 127.

[29] Ueberschär, “Das Scheitern…“, pp. 107-108.

[30] Bourgeois, op. cit., pp. 123, 127.

[31] Pauwels, op. cit., pp. 68-69; quotation from Hans W. Gatzke, Germany and the United States: A “Special Relationship?,” Cambridge/MA, and London, 1980, p. 137.

[32] Wegner, op. cit., pp. 654-656.

[33] Ueberschär, “Das Scheitern…,” p. 116.

[34] Clive Ponting, Armageddon: The Second World War, London, 1995, p. 130; Stephen E. Ambrose Americans at War, New York, 1998, p. 72.

(Wir haben den Artikel komplett übersetzt und mit Ergänzungen und Links in runden Klammern versehen. Die Hinweise in eckigen Klammern hat der Autor selbst eingefügt. Informationen über Jacques R. Pauwels, einen in Belgien geborenen, in Kanada lebenden Historiker, sind aufzurufen unter http://www.jacquespauwels.net/about.php . Anschließend drucken wir den Originaltext ab.)

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